#5 – Was ist „traditioneller Tango“ und warum wird er so getanzt?

Was ist „ traditioneller Tango“ und warum wird er so getanzt?

Eine heikle Frage. Sehr schnell wird gewertet, wenn es um Stile im Tango geht. Schnell fühlen sich Menschen persönlich angegriffen oder diskriminiert. Ich möchte niemanden diskriminieren. Ich bin froh über jeden Menschen, der Tango tanzt. Im folgenden Text möchte ich – sicher verallgemeinernd – beschreiben, welche Gemeinsamkeiten vieler Tanzpaare ich choreographisch und musikalisch auf Milongas erkenne, die als traditionell gelten. Es entspricht weitgehend dem, was als traditionell geltende Professionals in ihren Shows zeigen.

Eine bestimmte Art zu tanzen als „traditionell“ zu identifizieren impliziert, dass alle anderen Arten zu tanzen weniger in einer Tradition verwurzelt sind. Ansonsten müsste man ja ein anderes Merkmal wählen, um diesen Stil zu benennen. Die Möglichkeit, dass es verschiedene gleichwertige Traditionen desselben Tanzes geben könnte, wird durch diese Benennung eher nicht ausgedrückt.

Gleichzeitig sagt der Name nichts darüber aus, was dem traditionellen Tango wichtig ist. Man hätte ihn zum Beispiel auch eleganten Tango nennen können. Oder aufrechten Tango. Beides waren wichtige Eigenschaften des „Tango Salón“, in dessen Entwicklungslinie der „traditionelle Tango“ steht. Stattdessen deutet der Name an, dass allein das Berufen auf eine Tradition maßgeblich ist. Ich finde, dass diese Benennung große Gefahr mitbringt, diskriminierend zu wirken und den Blick auf die historische Vielfalt des Tangos zu verstellen.

Mehrere Traditionen

Wie ich bereits geschrieben habe, gab es nach meinem Verständnis in der Geschichte des Tangos spätestens seit den 30er Jahren zwei Entwicklungslinien des Tangos, zwei Traditionen. Die Grenze zwischen diesen Linien verlief zunächst eindeutig entlang der sozialen Grenze zwischen Ober- und Unterschicht. Die Oberschicht tanzte in Salons und hielt sich an den Tanz- und Verhaltenskodex der europäischen Standardtänze. Die Unterschicht tanzte in Nachbarschaftsclubs und ihre Art zu tanzen war wilder, freier, sexueller und veränderte sich ständig durch die Innovation der Tanzenden.

Jede Linie legte damit ihren Fokus auf andere Möglichkeiten, die der Tango mitbringt: Der Tango Salón wollte wohl eher bereits erreichten sozialen Status ausdrücken und fokussierte tänzerisch auf Eleganz und Perfektion in anerkannten Sequenzen.

Der „Tango con Cortes“, später vielleicht „Tango Milonguero“ und irgendwann „Neotango“ genannt, gab und gibt Tanzenden die Möglichkeit, sich durch Innovation und Authentizität einen Status innerhalb der Tangoszene zu erwerben. Die Orientierung an einem soziokulturellen Ideal – zumal einem Europäischen – war nicht Teil seiner Kultur. Gleichwohl versuchte er sich deutlich von der Salón Kultur zu distanzieren, wie sich z.B. in vielen Tangotexten zeigt.

Ich wäre froh, wenn es innerhalb der Tangoszene mehr Wertschätzung für unterschiedliche Arten zu tanzen gäbe. Die Tangoszene als Ganzes wäre offener für Neueinsteiger, vielleicht würden noch mehr Menschen tanzen, das Leben wäre schöner. 🙂

Daher möchte ich in diesem Text versuchen, einmal eine rein tänzerische Beschreibung des traditionellen Tangos vorzustellen. Ich möchte versuchen, aus meiner Perspektive zu zeigen, was der „traditionelle Tango“ besonders gut kann und was nicht. Ich hoffe, dass damit deutlich wird, warum ich finde, dass der Tango für viele Stile Platz bietet. Ich glaube, dass oft Unsicherheit die Wurzel der Diskriminierung im Tango ist. Mehr Verständnis für die Quelle der Vielfalt kann vielleicht helfen, diese Unsicherheit zu überwinden.

Entscheidungen

Als Tanzende treffen wir Entscheidungen. Einige Beispiele:

  • Möchten wir eher Neues erforschen oder Bekanntes perfektionieren?
  • Ist uns physische Nähe lieber oder choreographische Freiheit?
  • Ist uns Wildheit wichtiger oder der sanfte Umgang mit der anderen Person?
  • Ist uns das Aussehen des Paares wichtiger oder das Erlebnis als Tanzende?

Jede dieser Entscheidungen ist legitim, jeder Mensch hat andere Vorlieben. Für mich der wichtigste Gedanke: Es hilft weder dem Tanz, noch den Menschen, an dieser Stelle zu werten. Wer versteht, welche Entscheidungen dazu führen, dass sich der persönliche Tanz eines Menschen in eine bestimmte Richtung entwickelt, kann diesen Tanz schätzen, ohne ihn mit dem eigenen Tanz wertend vergleichen zu müssen. Wenn wir verstehen, welche Aspekte des Tanzes jemand besonders betont und welche Eigenschaften dadurch vielleicht weniger präsent sind, können wir aus jedem individuellen Tanzstil etwas lernen und Inspirierendes ziehen. Und Entscheidungen können sich ändern, die der anderen und die eigenen.

Die größte Gefahr für die eigene Entwicklung liegt für mich darin, tänzerische Entscheidungen als alternativlos zu betrachten. Leider habe ich das selbst lange getan und mich damit selbst am Lernen gehindert. Inzwischen denke ich, dass es immer Alternativen gibt. Und wenn man sich für eine Alternative entschieden hat gibt es immer auch einen Weg, das Ungewohnte durch Üben und Verfeinern zu etwas Bereicherndem zu machen.

Welche Entscheidungen dem traditionellen Tango zu Grunde liegen

Nach meinem Verständnis haben die meisten Menschen, die ich auf traditionellen Milongas sehe, bewusst oder unbewusst vor allem eine Entscheidung getroffen, die sich auf der ästhetischen Ebene abspielt:

Der „traditionelle Tango“ entsteht, wenn sich die Umarmung während des Tanzens nur sehr wenig oder sogar überhaupt nicht bewegen soll und die Choreographie an diese Umarmung angepasst wird.

Ich finde es wichtig zu sehen, dass dies zunächst tatsächlich eine rein ästhetische Entscheidung ist. Sie beeinflusst das Aussehen des Paares und bringt mehr Ruhe in die Umarmung. Gleichzeitig hat sie – eventuell sogar ungewollt – großen Einfluss auf die Choreographie. Folgendes aber bedeutet sie nicht unbedingt:

  • Die Tanzenden fühlen sich nicht automatisch verbundener
  • Die Schultergürtel sind nicht unbedingt parallel zueinander
  • Es wird nicht auf eine historisch ältere Art getanzt
  • Es wird nicht weniger Platz auf der Tanzfläche benötigt
  • Die Kommunikation wird nicht klarer
  • Es wird nicht unwahrscheinlicher, dass sich Tanzpaare berühren
  • Es muss nicht aneinander gelehnt werden

Außerdem legt der „traditionelle Tango“ tendenziell Wert darauf, dass die Tanzenden wenig Abstand zwischen den Oberkörpern haben

Weitere häufige Entscheidungen sind:

  • Es werden tendenziell große Schritte gemacht, sofern es der Platz zulässt
  • Es wird tendenziell auf den Beat getanzt und mit Dreierrhythmen verdoppelt
  • Es wird tendenziell nach geraden, klaren Linien im Körper gesucht.

Zwei (drei, vier) Versionen der Umarmung im „traditionellen Tango“

Die Entscheidung für die nahe bzw. unbewegte Umarmung hat großen Einfluss auf die choreographischen Möglichkeiten des Paares. Bei jeder Ocho-Drehung in offener Umarmung dreht das Becken der Folgenden um 180°. Da die Wirbelsäule sich nicht um 90° in eine Richtung verdrehen kann, muss auch der Schultergürtel mitdrehen. Der Schultergürtel wiederum ist Teil der Umarmung, die sich ihrerseits nicht bewegen soll. Deshalb sind also beispielsweise Ochos, wie wir sie aus der offenen Umarmung kennen, in einer unbewegten Umarmung nicht mehr tanzbar.

Unter den „traditionell“ tanzenden Menschen haben sich drei Varianten herausgebildet, um mit dieser Limitierung umzugehen:

  1. Es wird so getanzt, dass der Schultergürtel der Folgenden Person zu einer Seite um 90° drehen kann: Aus einer Position parallel zu führend bis in eine Position rechtwinklig zur führenden Person auf deren rechter Seite. Der rechte Arm der führenden Person bleibt dabei auf derselben Stelle am Rücken der folgenden Person.
  2. Es wird so getanzt, dass die Oberkörper der Tanzenden sich immer in einem 45° Winkel zueinander befinden (45 ist die Mitte eines 90° Winkels). Nur der Unterkörper der Folgenden Person dreht um 90°.
  3. Der Schultergürtel der Folgenden Person darf zu beiden Seiten drehen, dabei findet eine Art Abrollbewegung der Oberkörper aneinander statt. Das Becken der folgenden Person hat damit einen Spielraum von mindestens 180°.

Variante 1 ist die einfachste. Man bleibt nahe beieinander. Die Arme müssen sich nicht über den Körper bewegen. Weder Führend noch Folgend benötigen wir viel Torsion. Das choreographische Spektrum beschränkt sich auf eine relativ kleine Anzahl von Sequenzen, die innerhalb des Bewegungsradius‘ der Folgenden Person möglich sind und wiederholt werden.

Variante 2 ist etwas schwieriger für die Koordination, da Folgend fast immer mit Torsion tanzt. Ästhetischer Vorteil ist, dass in dieser Umarmung überhaupt keine Bewegung mehr stattfindet. Da der Unterkörper von Folgend dieselbe Bewegungsfreiheit hat, wie in Variante 1 werden auch dieselben Sequenzen getanzt.

Es gibt Paare, die sagen, beim Tango müsse man immer im 45° Winkel zueinander stehen. Das stimmt nicht, es handelt sich hier um eine rein ästhetische Entscheidung zugunsten einer unbewegten Umarmung.

Variante 3 wird vor allem von einigen professionellen Paaren verwendet, um bei Showtänzen möglichst selten die Umarmung komplett lösen zu müssen. Die Umarmung ist in dieser Variante nicht unbewegt, aber zumindest immer nahe. Auf traditionellen Milongas wird sie praktisch nie konsequent getanzt, allerdings wird sie auf Milongas manchmal kurzzeitig von Paaren verwendet, die ansonsten mit Variante 1 oder 2 tanzen.

Variante 4: Estilo Milonguero

Eine vierte Möglichkeit, mit der limitierenden Beweglichkeit der Wirbelsäule umzugehen, besteht darin, die Drehungen des Unterkörpers von Folgend konsequent durch Fußkreuze zu ersetzen. Oft werden Elemente in dieser Technik mit den anderen Varianten gemischt. Paare, die konsequent diese Technik verwenden, haben ein deutliche größeres choreographisches Spektrum als Paare, die konsequent Variante 1 oder 2 verwenden. So tanzt aber fast niemand.

Eigenschaften des Traditionellen Tangos

Der Tango, welcher entsteht, wenn man die Umarmung so gestaltet, wie oben beschrieben, hat einige interessante Eigenschaften.

Durch die enge Umarmung sieht der Tanz oft sehr innig aus. Da sich die Tanzenden auf Schulter und Kopfhöhe nicht voneinander wegbewegen wirken sie sehr stark aufeinander konzentriert.

Durch die starke körperliche Verbindung ist es nicht einfach, sich asynchron zu bewegen, so dass die Musikalität oft eher rhythmus- als melodiebetont ist und meistens Führend und Folgend gleichzeitig verlagern. Tendenziell entsteht eine sehr klare Musikalität.

Durch die choreographische Beschränkung aufgrund der Entscheidung für die unbewegliche Umarmung ist der tänzerische Anspruch dieses Tangos nach meiner Erfahrung relativ gering. Vor allem Folgende müssen kein großes Können erlangen, um schöne Tänze zu erleben und zu geben.
Das bedeutet aber definitiv nicht, dass man sich nicht über Jahrzehnte mit der Perfektionierung dieses Tangos befassen kann. Persönlich kann ich mir vorstellen, dass die Beschränkung auf ein relativ überschaubares Repertoire es uns ermöglicht, eine noch höhere und wiederholbare Perfektion in den einzelnen Schritten zu erlangen, als wenn wir freier tanzen.
Letztlich ist es aber einfacher, ein eingeschränktes Set von Sequenzen zu perfektionieren, als eine derart umfassende tänzerische Kompetenz zu erlangen, dass man spontan eine neue Bewegung mit hoher Bewegungsqualität und ausdrucksstark tanzen kann.

Ebenfalls durch die choreographische Beschränkung ist es einfach, mit neuen Menschen zu tanzen, da alle immer dieselben Sequenzen tanzen.

Tendenziell ist der traditionelle Tango die dankbarere Variante für Menschen, die auch gerne repetitiv tanzen. Der choreographisch freiere Tango mit einer flexiblen Umarmung wird repetitiv getanzt schnell leer und langweilig. Er lebt mehr davon, dass innerhalb der Choreographie auch viel mit Dynamik und Ausdruck und sehr subtilen musikalischen Variationen gespielt wird.

Eine große Gefahr des „traditionellen Tangos“ liegt in meiner Erfahrung in der Routine. Ich persönlich erlebe oft, dass gerade mit traditionellen Tanzenden keine sehr intensive Verbindung entsteht, da sich die Kommunikation darauf Beschränkt, die jeweilige Sequenz früh zu erkennen und dann auszuführen. In dieser Hinsicht ähnelt der traditionelle Tango den Standardtänzen.

Eine Kleinigkeit: Durch die Nähe der Köpfe der Tanzenden zueinander ist die Führende Person auf der rechten Seite des Gesichtsfeldes blind. Kollisionen sind so weniger einfach zu vermeiden, als wenn Paare offen tanzen. Dafür achten traditionell tanzende Paare oft mehr auf ihre Umgebung.

Weitere Regeln des Traditionellen Tangos

Einige traditionell tanzende Menschen geben sich zusätzliche Regeln, z.B. dafür, wie hoch der Fuß vom Boden gehoben werden darf. Auch dies sind rein ästhetische Entscheidungen. In meinem letzten Blogtext habe ich aus dem Buch „Así bailaban el TANGO“ zitiert. In einem der Interviews in diesem Buch wurden solche Regeln ebenfalls erwähnt. Sie galten in den Salóns der argentinischen Oberschicht, in denen eher der europäische Ballroom-Tango getanzt wurde.

So gesehen ist der „traditionelle Tango“ eine Mischung von Schritten des Argentinischen Tangos, wie er sich nach 1940 entwickelte, getanzt nach Regeln und in der Ästhetik des europäischen Tangos vor 1930, allerdings mit weniger Abstand zwischen den Oberkörpern.

„Traditioneller Tango“ vs „anderer Tango“

Traditioneller Tango ist nicht besser, schlechter, echter, authentischer, verbundener, musikalischer, intensiver, schöner oder kängurutauglicher, als anderer Tango. Auch innerhalb dessen, was wir dem „traditionellen Tango“ zuordnen, gibt es Unterschiede, in der Form der Umarmung und im Umsetzen der gesuchten Ästhetik. In der Milonga wird mit anderem Fokus und daher einfach anders „traditionell“ getanzt, als bei Shows.

Letztlich ist „traditioneller Tango“ auch nicht wirklich traditioneller, als anderer Tango. Er ist einfach durch seine spezifische Ästhetik und die aus ihr folgende choreographische Beschränkung von außen einfacher erkennbar und damit benennbarer, als ein individuellerer Tangostil. So kommt es schnell zur Kategorisierung in „traditionell“ einerseits und „nicht traditionell“ andererseits.

Weder der Vorgänger des „traditionellen Tangos“, der „Tango Salón“, noch der traditionelle Tango, der Neotango oder der Tango con Corte waren jemals DER Tango oder werden es sein. Tango darf vielfältig sein. Tango darf verändern, sich und die Menschen, die ihn tanzen.