#6 – Neotango

#6 – Was alles verbirgt sich hinter dem Begriff „Neotango“?

In den letzten Posts habe ich unter anderem meine Gedanken zur Entwicklung des „traditionellen Tangos“ aus dem Tango Salón beschrieben. Ich schrieb, dass kennzeichnend für  Tango Salón und „traditionellen Tango“ eine große Wertschätzung für eine bestimmte Ästhetik ist. Da zu dieser Ästhetik eine möglichst unbewegte Umarmung zählt, sind automatisch die choreographischen Möglichkeiten des Tanzes beschränkt.

Der Begriff des „Neotango“ kam um die Jahrtausendwende (wieder?) auf und benannte einen Tango, dem es in hohem Maße um choreographische Kreativität und Innovation ging.

Über die Geschichte der Wertschätzung von Innovation und Individualität im Tango habe ich ebenfalls bereits geschrieben. Um aber wirklich zu verstehen, was es mit dem Neotango auf sich hat, müssen wir etwas genauer auf die choreographischen Grundlagen des Tangos in Argentinien ab ca. 1950 werfen.

Der „Code“

Im Gegensatz zum europäischen Tango hatte sich im Tango in Argentinien spätestens in den 50er Jahren der Giro – auch genannt Molineta, Code of Walking, Code of Turning oder Drehsystem als relativ feststehende Grundsequenz etabliert. Die Sequenz leitet sich aus der Drehung des Paares her, während derer die folgende Person mit vier Schritten der Reihenfolge „vor-seit-rück-seit“ um die Führende Person herumläuft.

Im ursprünglichen Tango hatte diese Sequenz nicht dieselbe Bedeutung bzw. Häufigkeit. Laut einem Tänzer der frühen Jahre funktionierte eine Drehung damals folgendermaßen: Die führende Person drehte sich und die Folgende Person lief irgendwie im Kreis. In Videos sieht man häufig einfach Vorschritte. Diese Reihung von Vorschritten findet sich heute im modernen Ballroom-Tango in den vielen Promenaden wieder.

Vielleicht auf Grund zunehmender Enge auf den Tanzflächen wurden über die Jahre Drehungen im Tango immer wichtiger. Und der „Code of Turning“ stellt tatsächlich aus verschiedenen Gründen die ökonomischste Variante dar, im Kreis zu laufen.

Der „Code“ ist daher auch zur Grundlage des Tango Salón geworden und somit das technische Unterscheidungsmerkmal zwischen heutigem europäischem und argentinischen Tango.

Wichtig für den Neotango aber ist ein anderer Aspekt: Indem der „Code“ eine immer wiederkehrende Sequenz zur Grundlage des gesamten Tangos werden lässt, erlaubt er auch die systematische Suche nach neuen Kombinationen von Schritten der Folgenden und der Führenden.

Die Innovatoren um Gustavo Naveira

Ich vermute, dass in den frühen Jahren des Tangos neue Entdeckungen eher spielerisch passierten. Doch bereits in den 50er Jahren wurde von einigen Tanzpaaren sehr gezielt nach neuen Sequenzen auf der Basis des „Codes“ gesucht. Eine enorme Beschleunigung erfuhr diese Forschung aber in den 90er Jahren, nachdem Gustavo Naveira als erster erkannt hatte, dass der „Code“ tatsächlich allen Tangosequenzen zu Grunde lag. Naveira, Fabian Salas und Pablo Veron entwickelten gemeinsam über Jahre den Tango choreographisch mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und Systematik weiter.
Dabei dürfte Naveira eher die Rolle des Analytikers und Historikers zugefallen sein. Er hat sich intensiv mit der Geschichte des Tanzes beschäftigt und versucht, alle Sequenzen, die er in den Milongas von Buenos Aires und in alten Filmen fand, als Teil eines gemeinsamen Systems zu verstehen. Auch sein Tanz hat eine unglaubliche Klarheit.
Fabian Salas beeindruckt noch heute, indem er bei seinen Performances eine riesige Vielfalt von Schritten, zum Beispiel Ganchos, extrem schnell wie ein Lexikon kombiniert. Pablo Veron hat als Bühnentänzer von allen dreien den stärksten tänzerischen Background und verlieh dem neuen Tango eine enorme Ausdruckskraft.

Leider bleiben die Tanzpartnerinnen der drei häufig unerwähnt. Dabei ist die Rolle der Folgenden, die an dieser Entwicklung beteiligt waren nicht zu unterschätzen. Dazu zählen unter anderem Giselle-Anne, Lucia Mazer und Teresa Cunha. Im Gegensatz zu früheren Jahren brachten sie alle Erfahrungen aus dem klassischen und zeitgenössischen Tanz in die Rolle der Folgenden ein. Sowohl Fabian Salas als auch Gustavo Naveira betonen, dass ohne die tänzerische Freiheit und Fähigkeit der Folgenden die Entwicklung des Tangos niemals so explosionsartig verlaufen wäre.

Neue Umarmung, neue Freiheit, neue tänzerische Vielfalt

Besonders war, dass in diesem neuen Tango konsequent völlig frei mit der Umarmung umgegangen wurde. Ein Großteil der neuen Schritte und Sequenzen waren nur möglich, wenn das Paar die Umarmung teilweise oder ganz löste. So konnten beispielsweise Neotango-Paare, während im streng ausgelegtem „Tango Salón“ nur eine einzige Sacada getanzt wird, aus insgesamt 72 möglichen Sacadas auswählen.

Indem die Umarmung nicht mehr fixiert war, wurde sie selbst zum Element der Improvisation. Schaut man sich Videoaufnahmen aus der Zeit zwischen 1995 und 2005 an, sieht man Paare, welche die ganze Zeit mit dem Wechsel zwischen angelehntem Tanzen, Tanz in der Achse und dem Lehnen voneinander weg – Colgadas – spielen.

Neotango-Ästhetik

In diesen Jahren wurde der Tango verständlicherweise auch immer attraktiver für Tanzende aus anderen Disziplinen, wie Modern Dance, Ballett oder Contact Improvisation. Deren Einflüsse wiederum wirkten sich in den Jahren nach der Jahrtausendwende auch sehr stark auf die Ästhetik des Tangos aus. Tango war jung und cool. Auch heute gibt es einige junge Paare, die für ihre Performances zumindest kleidungsmäßig aus den bekannten Klischees ausbrechen und versuchen, etwas neues zu kreieren. Zwischen 2000 und 2005 spielte die Kleidung im Tango allerdings eher eine untergeordnete Rolle. Gleichgeschlechtliche Paare waren noch selten. Frauen und Männer tanzten aber häufig beide in Hosen. Auch war die Kleidung sogar bei Performances oft sehr unauffällig und sollte nicht vom Tanz ablenken. Der Stil war zunehmend alltagstauglich. Das Augenmerk lag auf der tänzerischen Individualität.

Besuchte man in jenen Jahren ein internationales Tangofestival, glich tänzerisch keine Performance der anderen, da jedes professionelle Paar versuchte, einen Stil zu entwickeln, der sich möglichst stark von allen anderen abhob.

Neotango in der Milonga

Neotango ist anspruchsvoll. Nicht umsonst konnte er sich nur entwickeln, als zunehmend professionell ausgebildete Bühnentänzerinnen und –tänzer in die Tangoszene kamen. Aber nicht nur die choreographische Vielfalt stellt eine Herausforderung dar. Da in der offenen Umarmung der Reiz der Nähe fehlt, müssen Bewegungserlebnis, Dynamik und Kreativität allein umso faszinierender sein. Ein Paar in offener Umarmung benötigt nicht unbedingt mehr Platz als ein nah tanzendes Paar. Trotzdem stellt die Koordination des Paares mit allen anderen Paaren eine größere Herausforderung dar, wenn man dazu auch noch frei und kreativ tanzten möchte.

In dieser Zeit gab es nur wenige internationale Professionals, die nicht für sich beanspruchten, Neotango zu tanzen. Trotzdem gab es interessanterweise auch in der Hochphase des Neotango meist nur relativ wenige Paare, die auch auf Milongas versuchten, die neuen Schritte und Sequenzen aus Kursen und Festivalworkshops umzusetzen.

Ein Berliner Neotango-Original…

…aber entstand in dieser Zeit, welches noch immer einen großen Einfluß auf die globale Milongaszene hat: Über Jahre gründeten weltweit Menschen Tango-Orte, inspiriert vom berliner Tangoloft mit seiner einzigartigen Mischung aus verträumter Tangoatmosphäre und der Lizenz zur tänzerischen Freiheit. Zum Glück für alle tangobegeisterten Menschen, denn wie viele Tangotänzerinnen und Tängotänzer hätten sich niemals auf diesen Tanz eingelassen, wenn es nicht Orte wie das Loft gäbe, an denen man auch ohne Regeln ausprobieren und sein darf.

Zumindest das ART.13 gäbe es wohl nicht, denn ohne die samstäglichen Milongas im 2003 noch ganz schön kleinen Tangoloft hätten weder Chantal und ich uns kennengelernt, noch hätte es mich lange genug beim Tango gehalten. Zu schwierig war für mich am Anfang der Einstieg in die ältere Tangomusik, so sehr ich sie auch heute schätze, bewundere und zum Tanzen vorziehe.