#3 – Tango früher und heute…eine Frage des Stils?

Tango früher und heute…eine Frage des Stils?

 

…in den letzten Wochen war vieles anders, als man es gewohnt ist. Zum Beispiel schien in Berlin andauernd die Sonne. Macht nichts, bloggen kann man ja immer auch morgen, dann regnet’s bestimmt wieder. Nicht? Dann eben übermorgen…

Heut ist endlich wieder alles beim Alten, vor dem Fenster zeitloses „Berliner Grau“ und schon schon seit einiger Zeit eine unglaublich spannende Fragen für den Blog von Chrisitan:

Wie viele Stile gibt es eigentlich beim Tango?

Wenn das keine perfekte Vorlage ist! Los geht’s!

Worum geht es?

In den letzten Jahren bezog sich diese Frage zunehmend auf den Unterschied zwischen „traditionellem Tango“ einerseits und „Tango Nuevo“ oder „Neotango“ oder „gar kein richtiger Tango“ andererseits, leider oft verbunden mit Wertungen verschiedenster Art.

Tatsächlich berührt diese Frage so viele Themen, inspiriert auf so vielen Ebenen zum Nachdenken über den Tango im Allgemeinen und über den eigenen Tanz, dass ich die Beschäftigung damit auf mehrere Blogeinträge verteilen möchte.

Argentinischer und Europäischer Tango

Ich bin kein Tanzhistoriker. Trotzdem möchte ich versuchen das Ganze heute historisch zu betrachten. Eine kleine, hoffentlich interessante Zeitreise hin und her über Äquator und Atlantik.

Denn wirklich eindeutig unterscheiden lassen sich heute nur noch die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen Argentinischem und Standard-Tango. Beide Tänze haben einen gemeinsamen historischen Ursprung, aber ab 1930 unterschiedliche Entwicklungswege eingeschlagen.

Die Unterschiede innerhalb des Argentinischen Tango haben wiederum ganz vielfältige Hintergründe. Aber davon mehr in kommenden Blogtexten.

Ich möchte die Reihe zu den Stilen des Tangos mit em Vergleich von Argentinischem Tango und Standard-Tango beginnen, weil wir dabei erkennen können, dass ganz unterschiedlich scheinende Tänze doch auf weniger offensichtlichen Ebenen sehr nahe verwandt sein können und vor allem bei der Frage nach „traditionellem“ Tango (Wann beginnt eine Tradition? Was macht sie aus?) viele Überraschungen auf uns warten!

Historischer Überblick: Wie viele Stile gab es eigentlich wann?

Vor 1910

Gute Frage…keinen? Oder vielleicht einen? Aber vermutlich haben eher alle getanzt, wie sie eben konnten und mochten und die Frage nach „Tangostilen“ stellte sich nicht wirklich:

In sozusagen tangomässig prähistorischer Zeit zwischen 1800 und 1900 wurde im Raum der Zwillingsstädte Montevideo (Uruguay) und Buenos Aires (Argentinien) immer häufiger der Name „Tango“ für Paartänzen der Afro-Argentinischen und Afro-Uruguayischen Bevölkerung verwendet. (Genau! Der Tango wurzelt tatsächlich tief in der Afroamerikanischen Kultur Südamerikas. Es wurde nur später so getan, als hätte alles im Bordell angefangen…).

Einige Mitglieder der weißen Unterschicht, vielleicht hatten sie eh nichts mehr zu verlieren, versuchten trotz aller rassistischen Hindernisse jener Zeiten, diese Tänze zu kopieren. Der Argentinische Tangotanz vor 1920 war also vermutlich ein sehr freier im Paar getanzter Volkstanz, basierend auf afrikanischen Solotänzen und mit ziemlich viel Körperkontakt. Für heutige Augen als Tango erkennbar? Eher nicht. (In einem späteren Blogartikel werden wir Videos dazu analysieren!)

Ab ca. 1915

Ab den 10er Jahren gab es dann zwei Tangostile. In Uruguay und Argentinien wurde weiter wild und mit viel Körperkontakt getanzt. Diesem Tanz verdankt der Tango seinen Ruf als besonders erotischer Tanz.

Aber in Europa hatte sich aus dem lateinamerikanischen Tango ein zweiter Tangostil entwickelt, der Ballroom Tango, auch Internationaler Tango, Englischer Tango, Europäischer Tango oder Standardtango genannt:

Ballroom Tango

Bereits in den 1910er Jahren mit dem Beginn der großen Ballroom-Dancing Euphorie kam auch Tango aus Argentinien nach Europa, zunächst wohl nach England. Die englische Ballroom-Tradition wartete quasi schon im Hafen auf ihn und hatte den Neuankömmling spätestens in den 1920er Jahren integriert. Dabei wurden die Schritte des „Argentinischen“ Tangos übernommen und in die damals übliche Ballroom-Haltung und Ästhetik übertragen. Der ursprüngliche Ausdruck des wilden, leidenschaftlichen und anrüchigen Tangos ging dabei zwar komplett verloren, trotzdem behielt der Tango interessanterweise seinen Ruf als besonders erotischer Tanz.

Auch der Finnische Tango gehört wohl hierher. Er ist dem Ballroom-Tango sehr ähnlich, hat aber eine lokal geprägte Musikgeschichte. Die Schritte wurden der Musik leicht angepasst, sind aber dem Ballroom-Tango unverkennbar nahe.

Der Ballroom-Tango in Argentinien

In Argentinien bescherte die Entstehung des Ballroom-Tangos dem Tango seine erste große Identitätskrise. In Europa „salonfähig“ geworden, wurde der (Ballroom-) Tango unverzüglich reimportiert. In seinem anständigen europäischen Kostüm wurde er nun auch von der weißen argentinischen Oberschicht in ihren Clubs getanzt und direkt zum tänzerischen Symbol der Nation erklärt. Allerdings waren die ursprünglichen Tangueras und Tangueros von dem neuen Tanz alles andere als begeistert. In Filmen und Liedtexten der Zeit spiegelt sich das abschätzige Verhältnis zu den „Neuen“ Tangotänzern wieder. Vielleicht kam auch in dieser Zeit zum ersten Mal die Frage nach dem „authentischen“ Tango auf.

Ab ca. 1930…

…gab es dann so etwas wie zwei stilistische Richtungen. Die Wege des Argentinischen Tangos und des Ballroom Tangos trennten sich. In Argentinien selbst gab es schon zu dieser Zeit zwei Strömungen, eine modern-konservative und eine traditionell-innovative.

„Argentinischer Tango“ nach 1930: “Tango Salón” und „Tango con Cortes”

Seit den 20er Jahren tanzte auch die argentinische Oberschicht (Ballroom-) Tango in den teureren Salons der Stadt.

In den Nachbarschaftsclubs wurde hingegen der ursprüngliche, wilde, kreative Tango weitergetanzt und entwickelt. Zunächst existierten also der europäische Tango und der ursprüngliche Tango nebeneinander. Da sie sich zu dieser Zeit noch nicht besonders stark choreografisch unterschieden, wurden sie als zwei Stile desselben Tanzes wahrgenommen. So dürfte der damals sogenannte „Tango Salón“ de facto einfach in Argentinien getanzter europäischer Tango gewesen sein. Er betonte Eleganz und hatte strenge Regeln. Neue Schritte waren unerwünscht.

Der lokale Tango, oft als „Tango con Cortes“ bezeichnet, blieb hingegen zunächst bei seiner wilden Ästhetik und betonte weiter die Individualität. Wer in der lokalen Tangoszene bekannt werden wollte, musste einen eigenen Stil entwickelte, kreativ und innovativ sein und neue Schritte erfinden.

Schon damals gab es wohl eine deutliche Spaltung der Tangoszene.

In der weiteren Entwicklung wurden die Grenzen zwischen Tango Salón und Tango con Cortes verschwommener. Der lokale Tango wurde eleganter, der Tango Salón übernahm viele choreographische Neuerungen. Beide entfernten sich damit choreographisch vom europäischen Ballroom-Tango, übernahmen aber letztlich zu weiten Teilen seine Ästhetik.

Stets kritisch betrachtet wurde jedoch auch weiterhin die regellose Freiheit und Innovation im Tango seitens der Tango Salón Tänzerinnen und Tänzer.

Die innovative Strömung im argentinischen Tango erhielt mit der Zeit viele unterschiedliche Namen, unter anderem Tango Porteno, Tango Criollo, Tango Canyengue, Tango Milonguero.

Ballroom Tango (nach 1930)

Auch der Ballroom Tango hat sich seit seiner Entstehung stark verändert. Er wurde mit den Jahren immer wettbewerbsbetonter. Wie bei allen Standardtänzen wurde damit auch die äußere Form immer ausgefeilter und gewissermaßen abstrakter.

Gar nicht verändert hat sich allerdings Choreographie. Ursprünglich aus dem Argentinischen Tango (vor 1920) in England übernommen, werden auch heute noch im Ballroom Tango Sequenzen getanzt, die mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem ursprünglichen Argentinischen Tango vor 1920 stammen.

Seit ca. 1980 und 2000

In den 80er Jahren, nach dem Ende der argentinischen Militärdiktatur, lösten Tango-Musicals international die sogenannte Tango-Renaissance aus. In diesen Musicals wurden von Balletttänzerinnen und –tänzern Choreographien in „historischen“ Kostümen aufgeführt, die das touristische Bild des Tangos bis heute prägen. Mit dem Tango, der auch in jener Zeit in den Milongas in Buenos Aires getanzt wurde hatten die Musicals allerdings nichts zu tun. Dieser Stil trug bei einigen Kommentatoren den Namen „Tango Escenario“ – „Tango für die Bühne“.

Parallel zum Bühnentango der Musicals wuchs seit jenem Jahrzehnt der Einfluss einer Gruppe junger Social-Dancers aus der kreativen Linie des Tangos. Deren choreographische Entdeckungen führten zu einer tänzerisch-kreativen Explosion im Tango. Um die Jahrtausendwende wurde dann der Begriff des Neotango für eine besonders  kreative und choreographisch vielfältige Art zu Tanzen geprägt.

Wenig später wurde dann, quasi als ‚Gegenbewegung‘, das jüngste Label erfunden:

Traditioneller Tango: Seit ca. 2005

Der sogenannte „traditionelle Tango“ steht in der Entwicklungslinie des „Tango Salón“, welche ich weiter oben „modern-konservativ“ genannt habe. Modern, weil sie sich ursprünglich nicht am ursprünglichen lokalargentinischen Tanz orientierte, sondern am neuen europäischen Tango. Konservativ, weil sie sich allen weiteren Entwicklungen tendenziell entgegenstellte.

Zeitgleich gewannen auch Wettbewerbe im Argentinischen Tango an Bedeutung, die in früheren Jahrzehnten kaum ernst genommene Randerscheinungen waren. Auch hier sind also Parallelen zum Ballroom-Tango zu finden, indem vor allem die „traditionelle“ Haltung immer ausgefeilter und wettbewerbsbezogener wird.

Zusammenfassung (war ja doch etwas länger…)

„Tango“ nannte man Paartänze der afrikanischstämmigen Bevölkerung Argentiniens und Uruguays. In diesen Paartänzen imitierte die schwarze Bevölkerung Paartänze der weißen Oberschicht. Diese neuen „schwarzen Paartänze“ wurden wiederum von der weißen Unterschicht übernommen. Als Volkstanz ohne Regeln entwickelte und veränderte der damalige Tango sich spontan und schnell.

In den 10er und 20er Jahren wurde eine Version dieses Lateinamerikanischen Tanzes dann in Europa in das Ballroom Repertoire integriert. Teile der originalen damaligen Choreographie wurden konserviert und mit der Ästhetik der europäischen Paartänze kombiniert. Moderner Ballroom-Tango besteht also aus Schritten des Ur-Tangos ca. 1920, getanzt in moderner europäischer Haltung.

In Argentinien und Uruguay entwickelte der Tango sich dann in den Folgejahren entlang zweier Linien:

Die „traditionell-innovative“ Linie führte vom ursprünglichen „Tango con Cortes“ über „Tango Milonguero“ zum Neotango. Tänze dieser Linie verwenden die ursprüngliche europäische Haltung in lockerer Form und erlegen sich wenige oder keine choreographischen Beschränkungen auf.

Die modern-konservative Linie geht vom Ballroom-Tango über den „Tango Salón“zum sogenannten „traditionellen Tango“, welcher eine stark begrenzte Auswahl an Elementen des „Tango Milonguero“ in ursprünglicher europäischer Haltung tanzt.

Ausblick: Das wird es in den kommenden Blogeinträgen geben

Die Frage nach den Stilen des Argentinischen Tangos ist komplex und überraschend. In den kommenden Blogartikeln möchte ich mich ihr noch von verschiedenen Seiten aus annähern, unter anderem:

  • Was ist eigentlich „authentischer Argentinischer Tango?“ – und was hat besonders authentische Tänzerinnen und Tänzer zu verschiedenen Zeiten ausgezeichnet?
  • Was zeichnet den „Traditionellen Tango“ aus und warum wird dieser Stil genau so getanzt?
  • Welchen Stil tanzen Chantal und Sebastian?
  • Was bedeutet „Neotango“?
  • Tango-Geschichte: Eine kleine Video-Reise durch die Geschichte des Argentinischen und Europäischen Tangos

Bis demnächst…