Wie würden wir unseren eigenen Tangostil beschreiben?
In den letzten Artikeln ging es viel um die Geschichte des Tango-Tanzes. Ich habe geschrieben, dass in meinem Verständnis die Entwicklung des Tangos zwei Linien folgte, einer traditionell-innovativen Linie und einer modern-konservativen Linie.
Die „modern-konservative“ Linie habe ich so genannt, weil sie aus dem eigentlich viel jüngeren Ballroom-Tango entstanden ist und eine Tendenz hat, bestehendes zu bewahren und noch Neueres eher skeptisch zu betrachten. Sie führt vom Ballroom-Tango über den „Tango Salón“ hin zum „traditionellen Tango“
Die „traditionell-innovative“ Linie habe ich so genannt, weil sie dem ursprünglichen Wesen des Tangos als improvisiertem Volkstanz näher steht und gleichzeitig der Innovation große Wertschätzung entgegenbringt.
Wir selbst fühlen uns dieser Entwicklungslinie verbundener. Aber wie alle Tangos ist auch unserer sehr individuell. Außerdem verändert er sich ständig. Aber ich kann versuchen, zumindest aus meiner Perspektive unseren bisherigen Weg zu beschreiben und zu erklären, was uns in unserer Art zu tanzen besonders wichtig ist.
Die Ausgangssituation
Als Chantal und ich uns kennenlernten, standen wir tänzerisch an völlig unterschiedlichen Punkten.
Chantal hatte zu diesem Zeitpunkt nicht nur in verschiedenen schweizer Tangoschulen sehr viel Unterricht genommen, sondern war auch schon auf mehreren Festivals gewesen, hatte Workshops bei den bekanntesten LehrerInnen der Welt genommen, mit hervorragenden Tanzpartnern privat trainiert und zuletzt einen fantastischen Tangolehrer gefunden, bei dem sie monatlich Workshops besuchte.
Ich hatte in 4 Tangojahren insgesamt 4 Tangostunden und eine Practica besucht. Abgesehen von zu wenig Geld hatte ich auch eine große Skepsis gegenüber Lehrpersonen und Lehrmeinungen.
Auf der einen Seite also Chantal mit ungeheuer viel Wissen, Information, Theorien, Erfahrungen und einem verglichen mit meinem Repertoire gigantischen Spektrum an Sequenzen. Auf der anderen Seite hauptsächlich Entdeckungsgeist und Skepsis gegenüber den landläufigen Erklärungen.
Unsere Entwicklung
Wir haben in unserer tänzerischen Entwicklung viele Veränderungen und Phasen durchgemacht.
Da wir um die Jahrtausendwende mit dem Tangotanzen begonnen haben, spielten für uns Kreativität und choreographische Vielfalt immer eine große Rolle. Prinzipielle Choreographische Beschränkungen haben wir für uns nie in Erwägung gezogen.
Wir haben auch nie besonders an Form und Aussehen unseres Tangos gefeilt, da wir uns nie besonders als Showtanzpaar gefühlt haben.
Rückblickend würde icih sagen, dass wir immer auf der Suche nache einem System waren, welches wir dem Tango tänzerisch zugrunde legen konnten. Konzepte zur Bewegungstechnik und zur Kommunikation, die so universell sind, dass wir sie in jeder Bewegung wiederfinden können.
Choreographisch gibt es solch ein System in der Analyse des Drehsystems und seiner Variationen. Aber für Kommunikation und Bewegungstechnik kennen wir kein vergleichbares System.
…und jetzt?
In den letzten Jahren war unsere Entwicklung nach unserem Empfinden nicht mehr so „wechselhaft“ wie in den Jahren davor. Wir hatten den Eindruck, dass sich ein Art. Grundlage etabliert hatte und wir uns eher in die Teiefe entwickelten. Unsere Kommunikation wurde dabei immer körperbetonter. Die Bewegungen runder, die Umarmung ruhiger und das Spiel mit der Achse vielfältiger.
Zeitgleich wurde uns zunehmend bewusst, wie unglaublich komplex die Bewegungsabläufe Tango tanzender Paare anatomisch sind. Immer deutlicher trat dabei zutage, wie sehr die Limitierung der Sprache über Tango unser Verständnis des Tanzes und unsere Vorstellungsmöglichkeiten beeinflusst hatte. Gleichzeitig wurden uns in letzter Zeit immer mehr Zusammenhänge zwischen verschiedensten Bewegungen bewusst, sodass wir den Tango immer ganzheitlicher konzeptuell sehen können.
Ein großer Schritt
Für mich persönlich war es einer der größten Schritte mich zu trauen, nicht mehr über andere Tanzstile zu urteilen. Ich habe in einem anderen Text von der Suche nach dem „authentischen Tango“ geschrieben. Von dieser Suche war wohl noch lange die Vorstellung geblieben, dass es vielleicht doch die eine richtige Art gibt, Tango zu tanzen. Vielleicht konnte ich diese Vorstellung loslassen, als ich mich nach über 15 Jahren Tango endlich häufiger traute, Menschen aufzufordern und auch mit anderen Professionals zu tanzen, die ich bis dahin oft nur aus Videos kannte.
Auf jeden Fall wurde mir irgendwann klar, dass den vielen unterschiedlichen individuellen Tangos nicht Fehler zugrunde lagen, sondern Entscheidungen und Präferenzen. Dass niemand in seinem Tanz alles perfekt machen kann, sondern dass wir immer Kompromisse eingehen. Indem ich begann, die Entscheidungen anderer Tanzender als solche zu verstehen und konnte endlich die Essenz ihres Tanzes von ihnen lernen und organisch in den Stil einfließen lassen, der mir am meisten entspricht – meinen eigenen.
Unser Tango
Unser eigener Tango hat also auch viel damit zu tun, wofür wir uns entscheiden und was uns vielliecht weniger wichtig ist.
Aussehen
Das Aussehen und die Form unserer Bewegungen sind für uns nicht so wichtig, wie das Bewegungserlebnis. Wir fühlen uns nicht als Showttanzpaar und trainieren z.B. praktisch nie mit einem Spiegel. Eventuell wird sich das demnächst aber etwas ändern, wenn wir anfangen, mehr Videos zu produzieren. Ich vermute aber, dass uns das Bewegungsgefühl immer wichtiger sein wird, als die Optik. Für uns ist der Tango etwas sehr Intimes und „Privates“.
Auch visuelle Klarheit z.B. in Form großer Schritte, einfach zu erfassender Rhythmen, ist dementsprechend nichts, das wir besonders optimieren. Wenn die Essenz unseres Tanzes nicht von außen sichtbar wird, stört uns das nicht sehr. Im Gegenzug ist es uns sehr wichtig, uns völlig aufeinander zu konzentrieren und uns nicht zusätzlich damit zu beschäftigen, wie wir eventuell auf andere wirken.
Es wäre sehr schön in der Lage zu sein, uns gleichzeitig wirklich die andere Person zu konzentrieren und darauf zu achten, wie unsere Bewegungen aussehen. Zumindest bisher überfordert uns dies aber. Persönlich habe ich aber auch noch mit keiner anderen Person getanzt, die das tatsächlich konnte. Don’t judge a dancer by their looks…
Kommunikation
Wir erleben Tango sehr als Austausch und gemeinsame Schöpfung. Was die Choreographie betrifft ist es momentan noch so, dass ich, Sebastian, die Entscheidungen treffe. Aber wer weiß schon, was die Zukunft noch bringt. Meine Entscheidungen wiederum werden sehr stark von Chantals Ideen beeinflußt. Insgesamt erleben wir auch den Prozess des spontanen choreographierens sehr gemeinsam und gegenseitig inspirierend.
Wir können im Tango sehr klar und detailliert kommunizieren. Allerdings ist Klarheit für uns nicht das Wichtigste in der Kommunikation. Zu viel Klarheit in einer Richtung kann zu Dominanz führen und dann trennend wirken. Uns ist Verbundenheit und Gemeinsamkeit wichtig, daher „führe“ ich immer mehr nur eine Skizze der Choreographie, die wir dann gemeinsam ausfüllen.
Unsere Umarmung
Viele Menschen fragen uns, warum wir immer offen tanzen. Zunächst einmal stimmt diese Aussage ja nicht ganz – wir tanzen von Zeit zu Zeit eng und tendenziell wird der Abstand geringer. Aber wir werden wohl nie so konsequent eng tanzen, wie andere Paare – ganz einfach wegen unseres Größenunterschiedes. Wir haben 18 Jahre lang immer wieder versucht, konsequent eng zu tanzen. Immer wieder wurde uns gesagt, die Größe spiele für die Umarmung keine Rolle. Wir glauben das nicht. Wir können eng tanzen, aber es ist nicht bequem. Also nähern wir uns langsam weiter an, ohne Zwang. Für alle, die eher gleichgroß sind, können wir aber bei allen Sequenzen, die wir unterrichten auch zeigen ob und wie sie eng getanzt werden können.
Und jetzt die Dinge, die uns besonders am Herzen liegen, uns glücklich machen beim Tanzen…
Musikalität
Jede Sequenz im Tango bringt eigene musikalische Möglichkeiten mit. Oft gibt es so etwas wie einen Hauptrhythmus, den eine Bewegung ganz von alleine mitbringt. Den kann man dann variieren. Unser Tanz ist choreographisch vielfältig. Aber diese choreographische Vielfalt ist für uns letztlich (fast) nur ein Mittel zur musikalischen Präzision. Da wir schnell und präzise aus vielen Sequenzen auswählen können haben wir auch alle musikalischen Tools zur Verfügung, um die Musik, die wir hören, mit dem ganzen Körper erleben zu können.
und Musikalität
In den letzten Jahren haben wir eine Bewegungstechnik entwickelt (die Kreise…), die es uns ermöglicht, rhythmus- und melodiebetont gleichzeitig zu tanzen. Gleichzeitig bietet dieselbe Technik die Möglichkeit, asynchron zu tanzen. Wir tanzen also oft mit allen vier Füßen gemeinsam einen komplexeren Rhythmus zu tanzen, als es mit zwei mal zwei Füßen möglich wäre. Oder wir greifen sogar zwei eigenständige Rhythmen aus der Musik heraus und setzen sie gleichzeitig um.
und Musikalität
Wir analysieren und gestalten unsere Bewegungen extrem detailliert. Natürlich bringt das Vorteile beim Unterrichten mit sich (vielleicht auch Nachteile, wenn es zu viel wird). Aber hauptsächlich nutzen wir diese Details der Bewegungen im eigenen Körper, um auch die Musik mit jedem Körperteil zu spiegeln und zu gestalten. So kann aus einer einzigen Beinbewegung eine komplexe und reiche musikalische Sequenz mit Rhythmen und Melodien werden.
Verbindung
Etwas vom Wichtigsten ist für uns, dass sich die Tanzenden ganz aufeinander einlassen. Dazu gehört, offen dafür zu sein, anders zu tanzen, als mit anderen. Still zu werden. Sich selbst dabei zuzuhören, wie der andere Mensch auf einen wirkt. Sich zu zeigen. Wir sind sehr gut aufeinander eingespielt. Trotzdem versuchen wir die ganze Zeit, uns gegenseitig und uns selbst mit kleinen neuen Details zu überraschen.
und Verbindung
Wir suchen sehr intensiv nach Bewegungen, die sich durch das ganze Paar fortsetzen. Daher spielt der physische Kontakt und die Einfühlsamkeit durch Berührung für uns eine große Rolle. Ich habe schon geschrieben, dass wir unsere Bewegungen sehr detailliert analysieren und gestalten. Beim Tanzen beobachten wir auch immer sehr genau, wie winzige Veränderungen im eigenen Körper die Haltung, die Bewegung, das Gefühl der anderen Person beeinflussen. So entsteht tatsächlich ein wechselseitiger Austausch ohne Worte.
Kreativität
Kreativität – also das Entdecken neuer Sequenzen – ist für mich nicht in dem Sinne wichtig. Das passiert eher ganz von allein. Allerdings mag ich es nicht, wenn der Tanz sich eingeengt anfühlt, wenn ich das Gefühl habe, dass die andere Person nur nach bereits bekannten Bewegungsmustern sucht.
Last but not least: Lernen, Entdecken, Entwickeln und Verändern
Diese vier bedeuten für Chantal und mich sehr viel. Ein Grund für unsere andauernde Begeisterung für den Tango, die Bereitschaft, ihm gewissermaßen unsere Leben zu widmen, liegt in dieser ständigen Bewegung. Für uns ist der Tanz auch ein Ausdruck der Person. Er spiegelt uns und indem wir ihm zuhören, seine Veränderung und Entwicklung beobachten, können wir uns selbst besser verstehen.